Spiral Dynamics integral als Entwicklungsmodell beschreibt wie Menschen verschiedene Stufen im Laufe ihres Lebens durchschreiten. Eine legitime Frage, die ich öfters höre, lautet: „können wir nicht eine Entwicklungsstufe überspringen? Müssen wir sie der Reihe nach erfahren und in uns entwickeln, bevor die nächste Stufe emergiert?“
Nicht alle Entwicklungsstufen sind gleich „sexy“
Insbesondere diejenigen, deren Werteprofil eine Dominanz in der Moderne (Orange) aufweist, beäugen die Existenzebene der Postmoderne (Grün) oft mit Skepsis und einer gewissen Abneigung. Die Postmoderne beschäftigt sich intensiv mit dem inneren Leben, dem Reflektieren der eigenen Verhaltensmustern, Emotionen, Projektionen. Und dies ist für die Moderne nicht „sexy“. Introspektion und Gefühle werden als unnötige, gar lästige Erfahrungen wahrgenommen, die der schnellen Zielerreichung im Wege stehen und Softies zugeschrieben. Dagegen sehen sie die Integrale Bewusstseinsstufe als spannend und attraktiv. Am liebsten würden sie die Postmoderne umgehen und sich direkt ins integrale Bewusstsein hineinentwickeln.
Jede Werteebene hat ihre Bedeutung
Die SDi Theorie besagt, dass wir in unserer Entwicklung keine Werteebene überspringen können. Jede neue Ebene entsteht als Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen den externen Lebensbedingungen und internen komplexen Anpassungsdynamiken. Am Beispiel des Übergangs von der Postmoderne zum Integralen Zeitalter werden wir betrachten, warum das vorige Wertesystem als Voraussetzung für das Emergieren der nächsten Stufe und deren Entwicklung zum authentischen Seins-Zustand ist.2
Die Bedeutung der postmodernen Perspektive
Warum brauchen wir für das Erscheinen eines integralen Bewusstseins das Heranreifen einer postmodernen Perspektive? Integral zu wirken bedeutet, all unsere Grunderfahrungen und Potenziale im Ego (Spüren, Fühlen, Denken) zu entwickeln, in die Reife zu bringen und zu nutzen. Dies meint z.B. das Entwickeln und das Zusammenspiel der physischen, emotionalen, kognitiven und spirituellen Intelligenzen. Das Reifen des Ego kann vor allem durch die Introspektion und das Interesse an Selbsterfahrung und persönlicher Entwicklung, welche in der Postmoderne verankert sind, geschehen. Erst wenn das Potenzial des Ego in all seinen Dimensionen erfahren und integriert wird, kann ich es transzendieren, und mich für das Transpersonale, das auf Gelb in den Vordergrund tritt, öffnen.
- Reifes, reflektiertes Ego in seiner Vielfalt leben und ausdrücken ist Voraussetzung für die gesunde Öffnung zum transpersonalen Potenzial.
- Fühlen und Spüren als Sprache der Essenz
Die Selbstreflexion der Postmoderne als nötige Entwicklungsebene
Auch ist die Selbstreflexion, die in der Postmoderne entsteht und als Fähigkeit stark entwickelt wird, für die integrale Ebene unverzichtbar. Sie ist der Vorbote des Zeugenbewusstseins. Erst wenn ich mir meines Selbst und meiner Reaktionen auf das Umfeld bewusst bin, kann ich in die mitfühlende Distanz gehen. Ansonsten bleibe ich in eigenen Mustern verstrickt, die die Verbindung zur Intuition und zum Zeugenbewusstsein verhindern. Auch kann die a-perspektivische Haltung (das nicht-Anhaften) der integralen Perspektive sich erst entwickeln, wenn ich weitgehend frei von Projektionen bin. Ebenfalls gründet die Qualität “Ängste verlieren“, die mit der integralen Ebene einhergeht, auf dem Erkennen meiner Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster
- Selbstreflexive Fähigkeit ist Voraussetzung für das Herausbilden des Zeugenbewusstseins, für das Entwickeln einer Lebenshaltung des Nicht-anhaftens und der Fähigkeit zum Loslassen.
Während wir im Wertesystem der Moderne das Prinzip von win-win kennen und vorleben, kommt im integralen Bewusstsein ein drittes Win hinzu. Dieses steht für das Leben selbst bzw. all das, was das Lebendige, Schöpferische unterstütz und fördert. Aus den Herzqualitäten und dem Mitgefühl, welche in der Postmoderne im Fokus stehen, entsteht auf natürlicher Weise das dritte Win. Mitgefühl mit allen lebenden Wesen öffnet eine Perspektive hin zu einem Win-Win-Win.
Jede Entwicklungsebene erweitert unser Handlungsrepertoire
Vielleicht ist der Gedanke hilfreich, dass jede Werteebene ein wunderbares Potenzial einzigartiger menschlicher Erfahrungen und Qualitäten darstellt. Mit dem Erleben und Integrieren dieser unterschiedlichen Seins-Ebenen erweitern wir unsere Möglichkeiten und gewinnen an Bewusstheit und Freiheit. Die Einladungen zur Transformation können wir als Chancen sehen, neue Facetten von uns zu entfalten und somit über ein erweitertes Handlungsrepertoire zu verfügen. Dies macht es uns leichter, uns in unserer komplexen Welt zu bewegen.
2 Das Wertesystem der Moderne kann die integrale Ebene kognitiv begreifen und bestimmte integrale Qualitäten durchaus auch in seinem Handeln integrieren. Dies ist dennoch anders als die Ebene des Integralen als Seinsebene in allen personalen und transpersonalen Dimensionen zu entwickeln
Claudine Villemot-Kienzle