- Werte bekommen in einer Zeit, die von großen Ambivalenzen und Differenzen geprägt ist, zunehmend die Rolle eines systemischen Schlüssels für Veränderungsprozesse.
- Wollen wir alle Beteiligten in Change-Prozessen mitnehmen, ist es notwendig, ihre Ängste und unterschiedlichen Bedürfnisse im Kontext von Veränderung zu erkennen.
- Dies hilft, für die jeweiligen Wertesysteme unterstützende Bedingungen für Transformation zu schaffen und ermöglicht, die Vielfalt der Bedürfnisse in den Prozess zu integrieren.
Wir Menschen tragen unterschiedliche Werte in uns. Lange Zeit hatte man den Eindruck, dass das Nebeneinander gut funktioniert, zumindest nicht hinderlich ist für gesamtgesellschaftliche Prozesse. Doch spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre scheint diese Selbstverständlichkeit mehr und mehr zu zerbröseln. Immer öfter, immer intensiver prallen verschiedene kulturelle Gruppen aufeinander, ist die Kommunikationskultur zunehmend rauer geworden. Das gilt in allen gesellschaftlichen Bereichen. Thomas Steininger, Herausgeber der Zeitschrift Evolve, konstatierte 2015: „Die globalisierte Welt erzeugt eine Komplexität, wie wir sie in unserer Geschichte noch nie gesehen haben. Sie ist geprägt von einem historischen Klimawandel, von neuen Kriegen, dramatischen Flüchtlingsströmen – einer Dauerkrise, die alle Akteure zu überfordern scheint.“* Es ist eine Welt voller Unsicherheiten, Widersprüche, Mehrdeutigkeiten und immer größerer Komplexität. International steht dafür das Akronym VUCA: volatility (Volatilität), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit).
In diesem Kontext bekommen die unterschiedlichen Werte der Menschen eine ganz neue Bedeutung. Sie entpuppen sich als systemische Schlüssel in Veränderungsprozessen, welche über Gelingen oder Misslingen entscheiden. Die Herausforderung liegt darin, dass wir seit Jahrzehnten gewohnt sind, beim Thema Veränderungen vor allem an strukturelle Veränderungen, geänderte Prozessabläufe oder Handlungsweisen zu denken. Dass dieses Verständnis jedoch nur ein kleiner Teil eines Gesamtbildes ist, wird spätestens dann deutlich, wenn wir Veränderungsprozesse als die Anpassung an Bedürfnisse verstehen, die sich aus der Lebenssituation ergeben. Wie verschieden solche Bedürfnisse sind und wie sehr jedes dieser Bedürfnisse sein eigenes Recht hat, sich zugleich aber auch vielfach exklusiv wahrnimmt, hat die Entwicklungspsychologie im 20. Jahrhundert herausgearbeitet.
Einfluss von Werten auf Veränderungsprozesse
Menschen setzen Prioritäten, treffen Wahlen und handeln entsprechend ihren Interessen. Diese sind Ausdruck von bestimmten Werten, die ihre Weltsicht und Denkweise prägen. Wir können beobachten, dass manche Menschen offen für Veränderungen sind, sie als anregend erleben und sie sogar gezielt suchen und einleiten. Andere reagieren mit Widerstand auf die Idee, etwas anderes, Neues zu machen, fühlen sich am wohlsten mit dem Bekannten und Vertrauten und wehren sich gegen Veränderungen. Wollen wir alle Beteiligten in Change-Prozessen mitnehmen, ist es notwendig, ihre Ängste und unterschiedlichen Bedürfnisse im Kontext von Change zu erkennen. Dies hilft, für die jeweiligen Wertesysteme unterstützende Bedingungen für Transformation zu schaffen, und ermöglicht, die Vielfalt der Bedürfnisse in den Prozess zu integrieren.
Die Betrachtung der in diesen einzelnen Wertesystemen enthaltenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungspräferenzen zeigt uns, dass je nach Wertesystem das Thema der Veränderung jeweils anders wahrgenommen und gedeutet wird.
Veränderung memetisch verstanden
Für diejenigen, die ethnische Zugehörigkeit und Loyalität zu Älteren wertschätzen, bedeutet Veränderung eine Bedrohung des Gruppenzusammenhalts. Die Angst, durch Veränderungen aus der Geborgenheit der Gruppe herauszufallen, führt zu Rückzug, Passivität und Verweigerung. Sicherheit gibt das Ehren von Traditionen. Ver-änderungen sollten über Vertrauenspersonen in einer persönlichen, fürsorglichen Kommunikationsform in kleinen Gruppen begleitet werden.
Autokraten befürworten Veränderung, wenn sie dadurch persönliche Vorteile erzielen können, wie z.B. mehr Macht oder mehr Sichtbarkeit. Sie können sich für Veränderungen begeistern und sind willens, einen Beitrag zu leisten, wenn die Initiatoren der Veränderung starke Persönlichkeiten sind, die sie respektieren können. Sie übernehmen gerne aktiv solche Rollen, die ihnen Raum für Selbstausdruck geben, gehen bereitwillig Risiken ein und wollen schnelle Ergebnisse sehen.
Menschen mit einer Verankerung im traditionellen Wertesystem stehen Veränderungen skeptisch gegenüber, da sie dadurch ihre Kernwerte „Ordnung und Stabilität“ gefährdet sehen. Sie öffnen sich für die Idee von Change, wenn sie einen höheren Sinn darin erkennen können, zum Beispiel mehr Gerechtigkeit oder Sicherheit. Veränderungsprozesse sollen die bisherigen Entwicklungen und die Geschichte würdigen, das Neue soll darauf aufbauen. Sie brauchen schriftliche Erklärungen zum Prozess durch die jeweils zuständige höchste Autorität im System und einen Schritt-für-Schritt-Umsetzungsplan mit Kontrollmechanismen.
Die moderne Weltsicht betrachtet Veränderungen pragmatisch als einen Weg zur Optimierung, zu mehr Erfolg und Wohlstand. Der Begriff Change ist hier entstanden, da er Kernwerten der modernen Denkweise entspricht. Hier sehen Menschen Veränderung als steuerbare Prozesse im Sinne des Ursache-Wirkungs-Prinzips, welche rational und strategisch eingeleitet werden. Menschen sind hierbei von nachrangiger Bedeutung. Personen mit dieser Weltsicht fördern und fordern Change, weil sie sich davon einen Zuwachs an Autonomie, Freiheit und Wettbewerbsfähigkeit versprechen. Bedeut-sam in solchen Prozessen sind wissenschaftliche Grundlagen, Expertenmeinungen und Erfolgsgeschichten.
Die Anhänger der Postmoderne gestalten gerne solche Veränderungen mit, die sich an humanistischen Werten ausrichten. Sie sollen mehr Harmonie, Nachhaltigkeit und Gleichberechtigung bringen. Im Change Prozess ist es wichtig, dass alle Stimmen gehört, Randgruppen integriert und Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Authentische Wertschätzung und Raum für Gefühle sind die Grundlage für erfolgreiche Veränderungsprozesse.
Neue Grundlagen für Transformation
Für das integrale Wertesystem sind Veränderungen der Ausdruck eines natürlichen evolutionären Prozesses und wirken als Treiber unserer menschlichen Entwicklung. Es geht nicht darum, einen Prozess zu steuern, sondern vielmehr, ihn ganzheitlich zu gestalten. Menschen mit einem integralen Wertesystem engagieren sich gern, wenn sie die großen Zusammenhänge erkennen sowie Funktionalität und Nachhaltigkeit gefördert werden. Der Change-Prozess soll die Vielfalt der Bedürfnisse integrieren. Menschen, Prozesse und Strukturen werden aufeinander abgestimmt, werteorientierte Strategien und Kommunikationsformen gewählt. Das Alte, das funktioniert, wird inte-griert, das Neue wird auf seine langfristigen Auswirkungen auf das Ganze überprüft. Die Fragen: welche Veränderung wozu, für wen/wofür, von wo nach wo, wann, wie, durch wen und mit welchen Auswirkungen?, bilden den roten Faden für den Change-Prozess. Bewusstheit und das Lebensfördernde bilden die Grundlage für Transformation.
In unserer Zeit prallen auch durch das Internet diese verschiedensten Verständnisse und die damit zusammenhängenden Bedürfnisse aufeinander, und zwar ungebremst und vielfach ungefiltert. Darum ist es in einer VUCA-Welt in einem ersten Schritt dringend nötig, das Feld der Betrachtung zu erweitern. Es ist notwendig, nicht nur die äußere, handlungsorientierte Dimension, die sich in Strukturen und Formen manifestiert, in Betracht zu ziehen. Ebenso bedeutsam ist eine innere Dimension, die sich in den individuellen Weltanschauungen und der Kultur niederschlägt. Mit dieser ganz-heitlichen Betrachtung ist eine Bewusstseinserweiterung verbunden, die sich auch in unserer Begrifflichkeit widerspiegelt. Change wird zur Transformation, wortwörtlich: Wir wagen uns über die Form hinaus.
Wertschätzung in der Auseinandersetzung
Menschen mögen einwenden, dass eine solche Erweiterung der Perspektive zu viel Zeit kostet, zu wenig Nutzen stiftet, sich zu sehr auf Faktoren einlässt, die wenig steu-erbar sind. Diese Einwände spiegeln das Denken des Paradigmas der Moderne wider. Doch ebendieses ist an seine Grenzen gestoßen. Andere Wege, auch für gesellschaft-liche Veränderungsprozesse, werden derzeit in einigen europäischen Nachbarländern erprobt. Der Ansatz von Mindfulness (Achtsamkeit) hat zum Beispiel zu einer neuen Kultur des Miteinanders geführt und ermöglicht einen anderen Umgang miteinander auch auf der politischen Ebene. Deutlich wird in Ländern, in denen dieses Anliegen inzwischen breiter angekommen ist, dass die Kultur der harten verbalen Auseinander-setzung einer Kultur des Dialogs weicht. Mit Erfolg und guter Resonanz gibt es im österreichischen Bundesland Vorarlberg seit einigen Jahren die Wisdom Councils, BürgerInnenräte, welche die Regierung bei wichtigen Entscheidungen beraten. Das Besondere daran: In ihnen sind Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppierungen vertreten. Damit kommt es zu einer vielfältigeren Repräsentanz der gesellschaftlichen Bedürfnisse/Werte schon vor den entscheidenden politischen Bera-tungsprozessen. Auch in Unternehmen wird immer öfter auf ganzheitliche Ansätze, beispielsweise mit der Einführung von Agilität, zurückgegriffen.
Werden dadurch Veränderungsprozesse konfliktfrei? In jedem Fall bleiben sie weiterhin spannungsvoll. Doch weil alle Beteiligten wissen, dass die Differenzen auch Chancen zu wegweisenden Lösungen in sich tragen und Synergiepotenzial erschließen, werden sie als Ressource wahrgenommen. Wie sehr eine wertschätzende Form des Dialogs, das Einbeziehen von verschiedensten Wertepräferenzen, das Wahrnehmen der miteinander konkurrierenden Kulturen bei klaren Regeln und Strukturen tiefgreifende Veränderungsprozesse positiv fördern, erleben die Autorinnen in vielfältiger Form in der täglichen Arbeit.
Autorinnen: Ingrid Schneider und Claudine Villemot-Kienzle
Der Beitrag erschien erstmals in: Nachhaltige Kommunikation in unübersichtlichen Zeiten, Hrsg. Dr. Peter Canibol und Susanne Theisen-Canibol, Schriftenreihe Kommunikation Nr. 2 der Verlagsgesellschaft Fakten und Köpfe, 2019, S. 25 – 29
* Thomas Steininger: „Aufbruch ins Lebendige“, in Evolve 07/2015. Die Zukunft in uns. Gesellschaft im Umbruch, S. 31.